„Die Jugend“ gibt es nicht. Je größer die Gruppe wird, über die wir reden, desto grobkörniger wird zwangsläufig auch das Raster der noch verbleibenden Gemeinsamkeiten. „Allgemeingültige“, „repräsentative“ Aussagen über „die Jugend“ sind letztendlich nur noch belanglos, klischeehaft oder von eigenen Interessen geleitet. Da wird irgendeine beliebige Gruppe oder Orientierung als Gesamt-Jugend vermarktet: „Die 68er“, „die 89er“, „Generation XYZ“, „Generation Corona“, „Gen Z“ usw. Generationen-Begriffe sind schreibtischgenerierte Marketingbegriffe der Erwachsenen – Versuche, für sich selbst Medienaufmerksamkeit
zu erheischen, nicht für Jugendliche.
Seit Jahrzehnten schon werden die „68er“ als leuchtendes Vorbild präsentiert – damals schien eine ganze Generation auf den Barrikaden. Sie waren politisiert und engagiert, Aktivist*innen einer politischen, sexuellen und kulturellen Revolution. In der Realität jedoch demonstrierten damals nur drei bis fünf Prozent der Studierenden auf den Straßen, Studentinnen wurden bei der Suche nach „neuen Männern“ auch unter ihren progressiven Kommilitonen nicht allzu oft fündig und die Bravo-Charts der Jahre 1967 bis 1970 verzeichneten als beliebteste Künstler der Jugend jener Jahre nicht die Rolling Stones, Jimi Hendrix oder die Doors, sonder den Augsburger Roy Black. „Die 68er“ und ihr sub- und gegenkulturelles Umfeld waren eine kleine Minderheit; die Mehrheit der Jugendlichen ging nicht zu Demonstrationen, Knutsch-Ins und Kiffer-Partys, sondern tummelte sich in Tanzschulen und kirchlichen „Jugend-Discos“. Die Schüler Union, 1972 gegründete Nachwuchsorganisation von CDU/CSU, hatte schon wenige Monate nach ihrer Gründung 20.000 Mitglieder.
„Die Jugend“ hat ein Imageproblem. In der öffentlichen Wahrnehmung ist sie schlecht: Unengagiert, unpolitisch oder in die falsche Richtung politisch, konsumtrottelig, gewalttätig, sie trinkt und kifft zu viel, hört die falsche Musik, und statt ein gutes Buch zu lesen und sich mit wahren Freunden zu umgeben, verschandelt sie die deutsche Sprache und sammelt virtuelle Freunde in „Sozialen Netzwerken“.
Das ist an sich nichts Neues. Seit Sokrates heißt es über jede Jugend, sie sei schlimmer als die letzte – sprich: wir selbst. Aber woher kommt diese negative Einschätzung der jeweiligen Jugend?
Eine Erklärung: Fast alles, was wir über „die Jugend“ zu wissen glauben, wissen wir aus den Medien. Und das ist größtenteils falsch. Medien bilden nicht die Realität im Ganzen ab, sondern nur deren vermarktbare Facetten. Sie leben davon, das Außergewöhnliche, Nicht-Alltägliche in den Vordergrund zu rücken und zur Normalität zu erheben: Drei betrunkene Fußballfans, die rassistische Sprüche skandieren, erfahren sofort eine bundesweite Medienresonanz; eine Ultra-Fangruppe, die sich aktiv gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagiert, ist kaum der Lokalzeitung ein paar Zeilen wert. Die „gute Nachricht“ ist keine. Und was nicht in den Medien stattfindet, gibt es nicht. Zudem neigen Medien in Zeiten harten Konkurrenzkampfes dazu, ihre Themen weiter zuzuspitzen. Und so heißt es tagtäglich, auch wenn alle Studien das Gegenteil belegen: „Immer mehr“ Jugendgewalt. Da ist Sensation statt Information gefragt, immer schneller, immer schriller, immer billiger.
Aktuell gilt „die Jugend“ als „rechtsgefährdet“ – als hätte sie die AfD erfunden und wären nicht nach wie vor Männer zwischen 35 und 65 deren größte Wähler- und Mitgliedergruppe. „Kinder stark machen“ lautet ein zentraler Grundsatz pädagogischer Arbeit, denn starke Kinder und Jugendliche sind für viele problematische Verführungen kaum anfällig. Oder wie es der Bielefelder Jugendforscher Wilhelm Heitmeyer einmal formulierte: „Glückliche Menschen werden keine Rechtsextremisten.“ Selbstbewusste Menschen müssen nicht andere diskriminieren, um sich selbst zu erhöhen; wer gelernt hat, Sprache und Kreativität einzusetzen, um sich selbst zu inszenieren, der braucht keine Gewalt. Leider haben immer noch sehr, sehr viele Jugendliche wenig Anlass und Chancen, Selbstbewusstsein zu erwerben. Während die Armut der Gesamtgesellschaft langsam sinkt, wächst die Kinder- und Jugendarmut ungebremst weiter. Viele Junge fühlen sich schon mit 13, 14 Jahren „überflüssig“ in dieser Gesellschaft. Jugendliche leben nicht in einem Vakuum – wir, die Erwachsenengesellschaft, bestimmen die Rahmenbedingungen ihrer Existenz und prägen damit ihre Entwicklung.
Es herrscht eine seit Jahrzehnten wachsende Misstrauenskultur „der“ Erwachsenengesellschaft gegenüber Jugendlichen, die ebenfalls zunehmend von repressiven Maßnahmen und Forderungen begleitet wird. Die unselige „Schwarze Pädagogik“ erlebt ihr Revival. Kinderrechte sind – vor allem in der Schule – ein „nice to have“, keine Verpflichtung. Die ohnehin engen Freiräume von Jugendlichen werden weiter eingeschränkt, Jugendkulturen, die nicht ins brave Spießerbild passen, nicht nur aus den Innenstädten verdrängt, sondern auch zunehmend in ländlichen Gemeinden. Punks, Skater, männliche Jugendliche mit Migrationsgeschichte …
Wer sich all diese Maßnahmen und Diskussionen vielleicht in 50 Jahren im Rückblick einmal ansieht, muss denken, dass wir es heute mit einer wahnsinnig gefährlichen Jugend zu tun haben. Die Realität sieht anders aus: Die heutige Jugendgeneration ist mehrheitlich eine der bravsten seit den 1950er-Jahren. Schon lange hatten wir keine Jugend mehr, die so leistungsorientiert, gesellschaftskonform und so wenig rebellisch war wie die heutige.
Dass dem so ist, sollte allerdings niemanden verwundern, denn Jugendliche leben schließlich nicht in einem Vakuum. Sie sind immer auch ein Spiegelbild der Mehrheitsgesellschaft, ihren eigenen Eltern wesentlich ähnlicher, als sie selbst fürchten, lediglich Seismographen allgemeingültiger Trends der Gesellschaft. Und die heutige Gesellschaft ist eine zutiefst neoliberal geprägte, in der nur zählt, was sich rechnet, in der Engagement nur als biografische Note im Lebenslauf Sinn zu machen scheint, in der Empathie mit den Schwachen und Marginalisierten der Gesellschaft ein Auslaufmodell zu sein scheint. Die von Ulrich Beck schon in den 1980er-Jahren beschriebene Individualisierung der Gesellschaft bedeutet heute vor allem: ICH zuerst – koste es, was es wolle.
Dazu kommt, dass permanenter Konsum die Grundlage einer kapitalistischen Gesellschaft ist. Glück kann man kaufen, lernen wir täglich in der Werbung. Warum selbst machen, wenn der Markt doch fast alles anbietet? Egal, ob alt oder jung: Es sind stets nur Minderheiten, die sich in Konsumgesellschaften engagieren, die durch ihr Engagement aber zugleich – wie man auch am Beispiel der 68er sieht – die Gesellschaft entscheidend prägen und verändern können. Jugendliche sind fast so konsumtrottelig und unengagiert wie die Alten auch. Die ganze Hoffnung der Evolution liegt in dem kleinen Wort „fast“.
Ein beständig wiederholter Mythos besagt, „die Jugend“ von heute sei „unpolitisch“ bzw. „unengagiert“. Befragt man Jugendliche selbst, bestätigen diese scheinbar den Verdacht. Wer weiter nachhakt, stellt jedoch fest, dass Jugendliche offenbar „Politik“ nur anders definieren als vorherige Generationen: „Politik“ wird von ihnen selten als Prozess und Chance der Gestaltung ihres eigenen Lebensalltags gesehen, sondern auf Partei- und Regierungspolitik reduziert, auf etwas Unangenehmes oder zumindest Abstraktes, das in für sie unerreichbaren und undurchschaubaren Milieus stattfindet. Dass der Staat, um Banken zu retten, in Krisensituationen plötzlich Milliarden Euro zur Verfügung stellt und für die Renovierung des maroden Bildungssystems oder für lokale Jugendarbeit kein Geld da ist, hat die Distanz von Jugendlichen gegenüber der Politik weiter verstärkt. Der Begriff Politik ruft heute Assoziationen wie Korruption, Egoismus, Doppelmoral, Langeweile und Ineffektivität hervor. Politiker*innen gelten als unehrlich, unfähig und allein schon kulturell wie ästhetisch als nicht gerade jugendaffine Berufsgruppe.
Dies alles führte zu dem seltsamen Ergebnis, dass sich heute je nach Studie nur zehn bis 15 Prozent der Jugendlichen selbst als „politisch engagiert“ einschätzen, gleichzeitig aber jede*r dritte Jugendliche schon „mindestens einmal“ an Demonstrationen teilgenommen hat und jede*r vierte Jugendliche sich sogar regelmäßig unentgeltlich etwa in der sozialen Arbeit, im Umweltschutz (Fridays for Future), in antirassistischen Gruppen, Internet-Magazinen, Musikprojekten oder anderen jugendkulturellen Zusammenhängen betätigt. Dabei prüfen Jugendliche kritischer als ihre Vorgänger-Generationen, in welchem Rahmen ihr Engagement sinnvoll sein kann, ob ihnen ernst gemeinte Partizipationsmöglichkeiten angeboten werden und ob der Weg zum Ziel nicht zur Tortur wird, weil man gezwungen ist, ständig mit Langweiler*innen und Unsympathen zu kommunizieren.
Da jede*r 14-Jährige weiß, dass Menschen ab spätestens 30 in der Regel ziemlich uncool werden, bevorzugen Jugendliche von vornherein Strukturen, in denen sie unter Gleichaltrigen sind und ihnen Erwachsene allenfalls mit Geld und Infrastruktur zur Seite stehen. So existiert heute ein dichtes Netzwerk jugendlichen Engagements, das sich, schon allein aufgrund seiner digitalen Kommunikationswege, von älteren Jahrgängen weitgehend unbemerkt entfaltet. In diesen überwiegend jugendkulturellen Netzwerken kommt oft alles zusammen, was Jugendliche fasziniert: Musik, Mode, Körperkult und selbstbestimmtes Engagement. Natürlich könnten Jugendliche, die sich engagieren wollen, auch bei den Pfadfindern, im christlichen Jugendchor oder bei der Freiwilligen Feuerwehr landen, und viele tun das ja auch. Ihr Engagement ist nicht grundsätzlich antiinstitutionell gemeint. Dass der Aufschwung jugendlichen Engagements bisher an Parteien, Gewerkschaften, Amtskirchen und traditionellen Jugendverbänden spurlos vorbeigeht, hat seine Ursache nicht in der Politik- und Institutionenfeindlichkeit der Jugend, sondern in der Jugendfeindlichkeit der Politik und der Institutionen – in ihrer Erstarrung zwischen taktischen Geplänkeln, Alt-Herren-Ritualen, endlosen bürokratischen Entscheidungsprozessen und der Forderung nach bedingungsloser Anerkennung einer Autorität, die nicht oder nur historisch begründet wird und sich einbildet, sie müsse sich nicht tagtäglich neu legitimieren.
Jugendliche haben eine Menge Entwicklungsaufgaben zu leisten und bisher nie gekannte Probleme zu bewältigen: die enormen Veränderungen des Körpers, das inflationäre Auftreten von Pickeln ausgerechnet in der Zeit, in der man zum ersten Mal den Beziehungsmarkt betritt, auf dem ein makelloser Körper so wichtig ist; der erste Rausch durch Alkohol, Nikotin, Marihuana, Sex, Liebe; die größer werdende Verführung durch die Konsumangebote des Marktes und damit einhergehend oft Verschuldung; die Ungewissheit der eigenen Zukunft und – für immer mehr Jugendliche, Stichwort: Klimakrise – die der Menschheit im Allgemeinen; die Notwendigkeit, nun selbst stetig immer mehr Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, zum Beispiel eine Berufswahl zu treffen, die zugleich realistisch ist und eine nachhaltige Zukunftsperspektive bietet. Aus anderen Ländern nach Deutschland eingewanderte Jugendliche – zum Beispiel die vielen Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan oder der Ukraine – haben noch zusätzliche Probleme zu bewältigen: Trauer über den Verlust der Heimat (die bekannte Natur und allgemeine Umgebung, aber besonders über den Verlust der Menschen, die man zurücklassen musste), Unsicherheiten aufgrund unterschiedlicher Umgangsweisen, Rituale, Kommunikationsformen. Die sprachliche Herausforderung. Die spürbare Abneigung oder zumindest Abgrenzung vieler Einheimischer bis hin zu offenem Rassismus. Und zusätzlich bei manchen Geflüchteten noch diverse Traumata aufgrund der im Herkunftsland und auf dem Fluchtweg erfahrenen Gewalt, ein oft Jahre andauerndes Überleben in Angst, Armut und absoluter Rechtlosigkeit.
Corona – bzw. genauer: die isolationistischen Anti-Corona-Maßnahmen – haben diese Entwicklungsprozesse der Jugendlichen schwer geschädigt, ihnen zwei sehr relevante Jahre ihres Lebens gestohlen. Oft thematisiert wurde der verpasste Unterrichtsstoff, die Gefährdung des „Leistungsstandorts Deutschland“. Weitaus dramatischer aus der Perspektive der Jugendlichen ist es, dass vielen von ihnen durch die Lockdowns nun zentrale Erfahrungen fehlen, die für die Persönlichkeitsbildung und die eigene Entwicklung so wichtig sind. Sich ein wenig von den Eltern abnabeln, Freundschaften, Beziehungen mit Gleichaltrigen knüpfen, gemeinsam diese Phase und ihre Veränderungen erleben. Zwei lange Jahre wurde der Jugend von ihrer Umwelt suggeriert, dass ihre Mitmenschen eine potenzielle Gefahr für die eigene Gesundheit seien. Therapeut*innen berichten nun, dass die Psyche vieler Jugendlicher durch die Maßnahmen und die ständige Wiederholung in den Medien, wonach man viel Abstand zu seinen Mitmenschen einhalten solle, großen Schaden erlitten hat. Möglicherweise fehlt es dieser „Generation“ einmal an wichtigen Kompetenzen wie der Teamfähigkeit, die in unserer Gesellschaft dringend benötigt werden.
Die schon erwähnte Misstrauenskultur der Erwachsenengesellschaft spiegelt sich selbstverständlich in der Haltung der Jugendlichen zu den Erwachsenen wider. Auch sie sind misstrauisch – besonders gegenüber der Politik und deren Institutionen, den Behörden. Ein*e einzige*r unfreundliche*r, arrogante*r und inkompetente*r Mitarbeiter*in prägt das Image der Behörde oder Beratungsstelle mehr als die zehn neben ihm sitzenden Kolleg*innen, die freundlich, kompetent, empathisch und engagiert zu helfen versuchen (ganz zu schweigen von strukturellen Defiziten wie miserable Personalschlüssel, fehlende Zeitbudgets und andere oft widersprüchliche bis widersinnige Vorgaben aus der Politik). Glück und Zufriedenheit verbreiten sich nun einmal langsamer und weniger effektiv als Unglück, Ärger und Wut – sonst würden wir uns abends alle Märchenfilme und ZDF-Soaps angucken statt blutrünstige Pathologen-Krimis.
Jugendliche erwarten von behördlichen und anderen erwachsenen Hilfeangeboten konkrete, direkte und realistische Angebote und Beratungen, die ihnen Handlungsoptionen bieten. Und Respekt! Auch und gerade, wenn sie (selbstverschuldete) Probleme haben. Das fängt bei der Sprache an und hört bei der Raumgestaltung der Beratungsstelle noch lange nicht auf. Respekt und Partizipation sind keine Einbahnstraßen. Wer es damit ernst meint, muss auch bereit sein, Jüngere zu respektieren, von Jüngeren zu lernen, und einen Teil der eigenen hierarchischen Macht abzugeben.
Die Engagementbereitschaft von Jugendlichen – auch in eigener Sache – steigt, wenn sie spüren, dass ihr Gegenüber sich ebenfalls engagiert – für sie. Sie wollen sich im Grunde gerne überzeugen lassen, dass ihre generelle Skepsis unbegründet ist, dass sie einer Person gegenübersitzen, der sie vertrauen können, weil diese auch ihnen Vertrauen entgegenbringt. Das genau sind Sie, das ist Ihre Kompetenz. Und falls nicht, sollte(n) Sie es werden.
Vielen Dank für dieses Gespräch!
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