Die Instagramisierung der Lebenswelten ist im vollen Gange. Auch vor dem privaten Familienalltag und dem Aufwachsen von Kindern macht sie nicht halt. Was grundsätzlich Potential hat (z.B. für die Förderung von Selbsthilfe und autodidaktischem Lernen) wird zunehmend zum dubiosen und zumindest kritikwürdigen Raum kindlichen Aufwachsens. Inszenieren sich Eltern zunehmend aufgrund narzisstischer und finanzieller Motive auf Kosten von Kinderrechten (z.B. Recht am eigenen Bild und auf Privatsphäre)? Handelt es sich um pädagogisch-alltagsnahe Orientierungshilfen für Familien? Oder geht es doch nur um kommerzielle Selbstvermarktung ohne Rücksicht auf Verluste? Dies soll nachfolgend anhand von vier Aspekten kritisch diskutiert werden. Dabei wird insbesondere die Bedeutung der Erziehungsberatung in diesem Kontext reflektiert.
Die Grundsätze der Aushandlungsfamilie (vgl. Kutscher/Bouillon 2018: 8) scheinen bei einigen Eltern nur noch wenig präsent zu sein. Beim Teilen des Familienalltags berücksichtigen Insta-Moms und Insta-Dads1 den Willen ihrer Kinder nur in den seltensten Fällen. Und das, obwohl auch sehr junge Kinder schon ganz genau wissen, was von ihnen veröffentlicht werden soll und was nicht (vgl. ebd.). Zwar kann von Kleinkindern noch nicht erwartet werden, dass sie die Folgen ihres Handelns reflektieren können, aber ein Mitspracherecht sollte ihnen in jedem Fall eingeräumt werden. Nicht umsonst bekommt jeder Mensch bei der Geburt das Recht auf Privatsphäre zugesprochen (vgl. Richter et al. 2020: 379), was auf Plattformen wie u.a. Instagram gerne und zunehmend vernachlässigt wird. Obwohl Eltern als Schutzbefohlene ihrer Nachkommen fungieren und stellvertretend für sie die Handlungsmacht übernehmen (vgl. Richter 2020: 27), macht sich immer wieder bemerkbar, dass Kinderrechte nicht zugunsten der eigentlichen Rechtsträger*innen ausgeführt werden. Denn da, wo Kinderrechte und Elternrechte aufeinandertreffen, haben die Eltern das letzte Wort (vgl. Kutscher/Bouillon 2018: 11f.). Aber wie kann sichergestellt werden, dass Eltern auch wirklich das tun, was im Sinne des Kindes ist? Genau hier liegt das Problem, denn in den allermeisten Fällen wissen gerade sie nicht, mit welchen Konsequenzen das Kind dadurch in Zukunft konfrontiert sein könnte und ignorieren die Tatsache, dass es vielleicht gar nicht in diesem Ausmaß in den sozialen Medien präsent sein möchte.
Nackte Kinder, die in der Badewanne planschen, präzise Kontaktdaten von Kindern und eine stolze 4-Jährige, die unter der Überschrift „Ich brauche keine Windel mehr“
in die Kamera grinst – das und vieles mehr ist auf sozialen Kanälen wie Instagram für die ganze Welt zugänglich. Abgesehen von der Tatsache, dass das Präsentieren von Menschen, welche sich der festgehaltenen Situation nicht eigenständig entziehen können oder unbekleidet sind, strafbar ist (vgl. Baumann 2019: 275f.), gibt es auch moralisch genügend Bedenken. Beispielsweise berichtet Das Erste (2021) nach Recherchen auf Pädophilie-Foren, dass etwa ein Viertel der Fotos ursprünglich den sozialen Medien entwendet wurden und mit Namen und Alter des Kindes sowie direktem Zugriff auf das Profil der Eltern hinterlegt sind (vgl. ebd.: o.S.). Wenn dies nicht Grund genug ist, um die eigenen Kinder von solchen Plattformen weitestgehend fernzuhalten (zumindest solange sie noch nicht selbst medienkompetent im Netz aktiv sind), ist es vielleicht die dadurch verloren gegangene Kindheit. Kindern wird durch das Auftauchen auf dem Account der Eltern nämlich die Möglichkeit verwehrt, sich selbst in den Medien auszuprobieren und eigenständig ihre digitale Identität aufzubauen, denn dies haben bereits ihre Eltern für sie übernommen (vgl. Kim/Grote 2020: 11). Auch wenn Kinderfotos schön anzusehen sind, steht die Leichtsinnigkeit außer Frage, durch die nun jede*r Follower*in weiß, wie das Kinderzimmer aussieht, auf welchem Spielplatz das Kind täglich spielt, was für eine Krankheit es gerade hat und so einiges mehr. Das, was einige nicht einmal mit der engsten Familie teilen, sehen online Millionen von Menschen und wird zunehmend normaler und fragwürdig legitim.
Provokant formuliert: Wenn Eltern mit ihrer Karriere nicht die gewünschten Ziele erreichen, müssen die Kinder herhalten. Dafür wird auch gerne in Kauf genommen, das eigene Kind zu täuschen oder es zu erpressen, damit es vor der Kamera das Richtige sagt und tut – alles für die Klicks. Die Kampagne ‚Sprechen Sie lieber MIT Ihrem Kind‘ (vgl. Lehmann 2015) deutete bereits vor einigen Jahren an, dass viele Eltern zu viel Zeit am Smartphone verbringen und dabei wesentliche Interaktionsmomente mit ihren Kindern versäumen. Bei Insta-Moms und Insta-Dads bewegt sich dies sogar auf einem noch höheren Level. Oft wird Kritik am Medienverhalten Jugendlicher geübt. Dass diese sich dabei allerdings an der Nutzung ihrer Eltern orientieren und Eltern insofern Vorbild und Modell sind, bleibt weitestgehend unbeachtet (vgl. ebd.: o.S.). Auf Instagram können nur die wenigsten Erwachsenen differenzieren, wo sich gerade Werbung verbirgt. Kinder können erst recht nicht abschätzen, wie und mit welcher Intention sie für Werbezwecke missbraucht werden (vgl. Kutscher/Bouillon 2018: 8). Sie freuen sich kindlich-naiv über die Berge an Geschenken und bemerken die Kamera beim Auspacken gar nicht, was die oftmals egoistische Intention der Eltern bei dieser vermeintlich großzügigen Geste hervorhebt. Diese Dauerbeobachtung schränkt massiv das Familienleben ein (vgl. Baumann 2019: 71), da die Familie nie richtig unter sich sein kann und jede noch so private Situation, sei es das Aufwachen am Morgen oder auch ein Brief zum Muttertag, in den sozialen Medien auftauchen soll. Auch Familien in der Konsument*innen-Rolle leiden unter den oft unrealistisch dargestellten Familienbildern, da sie die utopische Vorstellung einer perfekten Familie mit scheinbar makellos erzogenen Kindern verinnerlichen (vgl. Tschöpe-Scheffler 2006: 85) und so unter massiven Druck geraten können.
Immer verbreiteter ist auf Instagram der digitale Kummerkasten, bei dem u.a. Erziehungstipps an Eltern verteilt werden. Sicherlich bietet dieses niedrigschwellige Angebot einige Vorteile, wie etwa den Austausch auf Augenhöhe oder vielseitige Erziehungsansichten zur Inspiration und Anregung. Allerdings ist die Intention hinter dieser informellen ‚Beratung‘ oft unklar. So oder so bestehen durch die Tipps der Influencer-Eltern einige Risiken, wie etwa die „Gefahr einer Pädagogisierung bzw. Therapeutisierung des Alltags“ (Rietmann/Sawatzki 2018: 10). Sie täuschen bei der Verteilung ihrer Ratschläge oftmals eine Schein-Vertrautheit sowie Schein-Professionalität vor, welche Adressat*innen dieser Angebote zu der Annahme verleiten kann, dass die Plattform einen angemessenen Ersatz für professionelle Erziehungsberatung darstellt. Jedoch werden mit dem Kummerkasten nicht einmal die Grundkriterien wie Datenschutz oder Anonymität eingehalten (vgl. Engel et al. 2018: 107f.). In Anbetracht der ad-hoc verteilten Tipps, welche ohne jeglichen Hintergrundwissen über die Ratsuchenden in wenigen Sätzen Handlungsoptionen aufzeigen, kann davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei lediglich um basale Alltagstipps handelt. Dies fußt auf der Tatsache, dass professionelle Beratung immer den Aufbau einer Beziehung zwischen Berater*in und Adressat*in inkludiert (vgl. Engel 2019: 5), was auf sozialen Medien in der Form kaum möglich ist.
Die Plattform scheint folglich durchaus Potenzial für die Zukunft von Erziehungsberatung zu haben, da Flexibilität und niedrigschwellige Zugänglichkeit immer mehr an Relevanz zunehmen und so viele Ratsuchende (ergänzend zu der Beratung als solche) aufgeklärt und erreicht werden könnten. Daher ist es wichtig, dass auch Erziehungsberater*innen sich mit der Plattform vertraut machen und damit rechnen, dass viele Eltern sich dort bereits – wenn auch ggf. fragwürdige – Hilfe geholt haben.
1 Family (Video-)Blogger („Moms & Dads“) auf Instagram. Diese Plattform ist dabei nur exemplarisch zu nennen (weitere Kanäle sind u.a. Youtube).
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