Überall da, wo Menschen miteinander in Beziehung treten, können Grenzverletzungen, Übergriffe und Formen sexualisierter Gewalt durch Erwachsene wie auch durch Kinder und Jugendliche vorkommen. Es ist entscheidend, damit bewusst, transparent und reflektiert umzugehen, um solche Fälle zu minimieren oder zu verhindern.
Insbesondere die Aufdeckung von Fällen sexualisierter Gewalt in Organisationen wie Kindertagesstätten, Schulen, Vereinen und Verbänden hat verdeutlicht, dass die bislang ergriffenen Maßnahmen zur Vorbeugung nicht ausreichen, um Heranwachsende in ihren jeweiligen Lebenswelten umfassend zu schützen. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen obliegt uns Erwachsenen, die wir tagtäglich mit ihnen arbeiten bzw. leben. Für ein von sexualisierter Gewalt betroffenes Kind kann eine einzige Person den Unterschied machen. Deswegen ist es erforderlich, dass alle Erwachsenen möglichst gut zum Thema informiert sind.
Die Bandbreite dessen, was unter sexualisierter Gewalt zu fassen ist, ist groß. Sie ist ein Phänomen, das alle gesellschaftlichen Schichten durchzieht. Inhaltlich ist als sexualisierte Gewalt „jede sexuelle Handlung [zu verstehen], die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann“ (Deegener 2010, S. 22). Die Täter*innen nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen. Bei diesen Handlungen fehlt immer das Einverständnis der betroffenen Kinder.
Von sexualisierter Gewalt sind junge Menschen jeden Alters und Aussehens sowie jeder sozialen Schicht betroffen. Die Wahl der Betroffenen hängt nicht zuletzt maßgeblich von den individuellen Präferenzen und Gelegenheitsstrukturen der Täter*innen ab. Ein erhöhtes Risiko besteht für Kinder und Jugendliche mit physischen, psychischen und kognitiven Einschränkungen. Ebenfalls ist es als Risikofaktor zu werten, wenn erwachsene Bezugspersonen die altersspezifischen Grundbedürfnisse, insbesondere in emotionaler und sozialer Hinsicht, nicht erfüllen können. Kindliche Bedürfnisse werden vor diesem Hintergrund oft gezielt von Täter*innen ausgenutzt.
Im Deliktbereich der sexualisierten Gewalt an Kindern (§ 176 StGB) sind im Jahr 2022 laut der Polizeilichen Kriminalstatistik 15.520 Fälle zur Anzeige gebracht worden (vgl. PKS 2023, S. 16). Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Fallzahl im Dunkelfeld wesentlich höher liegt, da gerade im Bereich der sexualisierten Gewalt an Kindern ein Großteil der begangenen Straftaten nicht zur Anzeige gebracht wird. Die Gründe liegen u.a. darin, dass das Ermittlungsund Strafverfahren für die betroffenen Kinder, deren Familie und Bezugspersonen sehr belastend sein kann.
Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist im Jahr 2022 weiterhin 42.075 Fälle von Verbreitung, Besitz, Erwerb und Herstellung von sogenanntem „kinderpornographischem“¹ Material aus. Im Vergleich zum Vorjahr ist dies ein Anstieg von sieben Prozent (vgl. PKS 2023, S. 16). In der Polizeilichen Kriminalstatistik wird als Grund dafür ins Feld geführt, dass vor allem Kinder und Jugendliche ohne Kenntnis eines strafrechtlichen Hintergrundes „kinder- und jugendpornografisches“ Material digital teilen und somit verbreiten (vgl. PKS 2023, S. 16f.).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO Europa 2013, S. 8) geht von rund 18 Millionen Minderjährigen aus, die in Europa von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Auf Deutschland übertragen sind dies rund eine Million Kinder, also etwa ein bis zwei Schüler*innen in jeder Schulklasse. Für den Alltag pädagogischer Fach- und Leitungskräfte spielen Statistiken zur Häufigkeit sexualisierter Gewalt allerdings eine untergeordnete Rolle. Dort muss vor allem ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass tagtäglich mit Kindern agiert wird, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Darum sind eine erhöhte Aufmerksamkeit sowie entsprechende Sensibilisierung und Fachkenntnis notwendig. Gleichzeitig geht damit einher, dass sich zwangsläufig auch Berührungspunkte zu Täter*innen ergeben. Diese zu entlarven ist nicht einfach, denn Täter*innen bemühen sich, unentdeckt zu bleiben. Deswegen ist es erforderlich, sich mit der Thematik fachlich auseinanderzusetzen und eine professionelle Haltung zum Thema Nähe und Distanz zu entwickeln.
Schätzungsweise kommen etwa 50 bis 75 Prozent der Täter*innen aus dem sozialen Nahfeld oder der Familie der Betroffenen. Etwa 85 bis 90 Prozent der Taten werden von Männern verübt. Der Anteil der Täterinnen liegt demnach bei etwa zehn bis 15 Prozent, wobei Expert*innen aktuell einen deutlich höheren Prozentsatz vermuten.
Die Taten werden in erster Linie von Menschen begangen, deren primäre sexuelle Orientierung auf Erwachsenen liegt und die keine beziehungsweise keine ausschließliche sexuelle Präferenz für kindliche Körperschemata haben. Diese sexuelle Präferenzstörung wird als „Pädophilie“ bezeichnet. Es handelt sich um eine sexuelle Präferenz gegenüber Kindern, die sich zeitlich vor der Pubertät oder in einer frühen Phase der Pubertät befinden. Die Verwendung des Begriffs der Pädophilie ist jedoch höchst problematisch, denn wörtlich übersetzt aus der griechischen Sprache bedeutet er „Liebe zu Kindern“. Der Fokus liegt auf einer erotischsexuellen Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern, der Gewaltaspekt bleibt außer Acht (vgl. Bundschuh 2001, S. 25). Expert*innen präferieren in diesem Zusammenhang deswegen den von Dannecker 1996 vorgeschlagenen Begriff „Pädosexualität“. Er hebt die sexuelle Motivation hervor und verdeutlicht, dass es nicht um Liebe zu Kindern geht, sondern um Gewalt und Machtmissbrauch (vgl. Bundschuh 2001, S. 27).
Um das Bild von Personen, die sexualisierte Gewalt ausüben, ranken sich viele Mythen. So ist die Annahme weit verbreitet, es handele sich bei Täter*innen um Menschen, die mit zahlreichen sozialen und persönlichen Defiziten behaftet seien. Oftmals ist das Gegenteil der Fall. Sie haben
sozusagen zwei Gesichter. Nach außen hin sind sie meist unauffällig und verfügen über viele Taktiken, um unentdeckt zu bleiben. Deswegen wird auch von Täter*innen-Strategien gesprochen: Sie gehen gezielt vor und nutzen ihre Macht und Autoritätsposition gegenüber Kindern und Jugendlichen aus. Ein „Grooming“ genanntes Vorgehen meint, dass Täter*innen das Schamempfinden von Betroffenen sukzessive zu erweitern versuchen und diese sowie deren Umfeld manipulieren – nicht nur im analogen, sondern auch im digitalen Raum.
Präventive Maßnahmen müssen systematisch auf verschiedenen Ebenen implementiert und an unterschiedliche Zielgruppen adressiert werden, um tragfähig und wirksam zu sein.
In der Prävention von sexualisierter Gewalt sind insbesondere Konzepte verbreitet, die sich an Kinder und Jugendliche selbst wenden. Solche Ansätze sind darauf ausgerichtet, Heranwachsende altersangemessen über sexualisierte Gewalt zu informieren und sie dazu zu befähigen, Gefährdungssituationen als solche zu erkennen und bei Vertrauenspersonen offenzulegen. Darüber hinaus beinhalten diese Ansätze Aspekte zur Selbstwertstärkung im Allgemeinen.
Kinder und Jugendliche sind jedoch nicht für ihren Schutz verantwortlich. Prävention bedeutet deswegen vorrangig Aufklärung und Wissen für Erwachsene. Zur Aneignung von Kenntnissen im Themenfeld gehört, dass sich Erwachsene intensiv mit ihren Stereotypen, mit ihren Denk- und Handlungsmustern auseinandersetzen, die ihre jeweilige (pädagogische) Praxis prägen, und falsche Vorstellungen freilegen, die sich um das Thema ranken. So herrscht etwa der Fehlglaube vor, dass hauptsächlich fremde Männer sexualisierte Gewalt ausüben, dabei sind Täter und Täterinnen in der Regel im sozialen Nahfeld und in der Familie von Kindern zu verorten. Zudem ist Fakt, dass Frauen als übergriffige und gewaltausübende Personen gesellschaftlich kaum ins Blickfeld geraten. Frauen wird oft in der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern ein größeres Spektrum an Handlungen zugestanden als Männern. Das Bild der „guten Mutter“ hat immer noch Bestand und dass sich Frauen ebenfalls übergriffig verhalten können, lässt sich schwer mit unserem Bild der „weiblichen Fürsorglichkeit“ in Einklang bringen. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, normative Geschlechtervorstellungen zu überprüfen, um Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen überhaupt angemessen und sachlich bewerten zu können.
Weiterhin werden Aspekte aus der sexuellen Bildung im Kontext von Prävention meist nicht ausreichend einbezogen, dabei sind Prävention von sexualisierter Gewalt und sexuelle Bildung miteinander verwoben. Es gilt der Grundsatz: „Nur wer Bescheid weiß, kann auch Bescheid sagen.“ Kinder, die ihre Körperteile benennen können und den Intimbereich nicht ausklammern, haben ein besseres Verständnis für ihren Körper und sich selbst und können sich bei Unwohlsein und Übergriffen eher mitteilen. Nur wer Worte hat, kann Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen benennen. Das Thema ist jedoch bei erwachsenen Bezugspersonen mit Unsicherheiten behaftet. Das damit verbundene Spannungsfeld spiegelt Haltungen wider, die sich zwischen Tabuisierung und fehlenden Grenzen bewegen. Es geht in einer sexualfreundlichen Erziehung nicht darum, Kinder mit altersunangemessenen Aspekten aus der Erwachsenensexualität zu konfrontieren. Es geht darum, Fragen der Kinder aufzugreifen, sie altersangemessen zu beantworten und Ansprechbarkeit zu signalisieren. In sexuellen Dingen sprechfähig zu werden, ist jedoch ein Lernprozess, in den sich Kinder und Erwachsene gleichermaßen begeben müssen.
Präventionsarbeit kann noch so gut sein – einen vollständigen Schutz vor sexualisierter Gewalt kann sie leider niemals gewährleisten. Aber um die größtmögliche Sicherheit zu bieten, sollte sie schon in den frühen Kinderjahren beginnen, immanenter Bestandteil kindlicher Lebenswelten sein und von Bezugspersonen immer mitgedacht werden. Prävention von sexualisierter Gewalt ist nicht als Projekt zu verstehen, sondern als Prinzip. Kinder sind deswegen besser vor sexualisierter Gewalt geschützt, wenn sich Prävetionsgrundsätze im Alltag widerspiegeln. Sie verdeutlichen Kindern und Jugendlichen zudem, dass sie Träger*innen von Rechten sind und diese Rechte auch gegenüber Erwachsenen
vertreten dürfen. Die präventiven Botschaften und Kinderrechte sollten sich dementsprechend in der täglichen Interaktion widerspiegeln.
Täter*innen, die sexualisierte Gewalt ausüben möchten, suchen sich oftmals Organisationen mit guten Gelegenheitsstrukturen. Gute Gelegenheitsstrukturen bieten etwa Orte, an denen sich viele Kinder aufhalten, an denen Erwachsene möglichst frei agieren und ungestört einen intensiven Kontakt mit Kindern und Jugendlichen pflegen können. Gegen sexualisierte Gewalt an Kindern muss deswegen systematisch vorgegangen werden, wie etwa durch die Verankerung von Rechte- und Schutzkonzepten in allen Einrichtungen, in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten. Diese erschweren es Täter*innen, unentdeckt zu agieren.
Dabei ist zu beachten, dass ein solches Konzept kein abgeschlossenes Maßnahmenpaket darstellt, sondern einen Prozess beschreibt, der dauerhaft weiterentwickelt werden muss. Dieser Prozess benötigt Fach- und Leitungskräfte, die für die Initiierung und Reflexion federführend verantwortlich sind. Ein Rechte- und Schutzkonzept sollte die unterschiedlichen Formen von Gewalt, das Phänomen des Machtmissbrauchs sowie die Einrichtung als Schutz- und als Kompetenzort in den Blick nehmen. Der Schutz von Kindern und die Beachtung ihrer Rechte sind untrennbar miteinander verbunden. Das heißt auch, dass junge Menschen umfassend bei der Konzeptentwicklung und der Umsetzung von Maßnahmen beteiligt werden müssen und die Konzepte sie nicht in ihren Rechten beschneiden dürfen. Kinder als Träger*innen von Rechten müssen im Fokus stehen und ihre Beteiligung muss eine zentrale Stellung einnehmen, denn ohne gelebte Partizipation ist Kinderschutz weder präventiv noch intervenierend wirksam.
Präventive Maßnahmen können möglichst differenziert und konkret ausgearbeitet werden, wenn bereits vorhandene Schutzfaktoren und mögliche Risikofaktoren in den kindlichen Lebenswelten erkannt wurden. Prävention kann ihre Wirkung entfalten, wenn sie auf unterschiedlichen Ebenen ansetzt. Eltern und Bezugspersonen von Mädchen und Jungen sowie alle in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Menschen sind dazu angehalten, sich Wissen über sexualisierte Gewalt anzueignen, Denk- und Handlungsmuster zu überprüfen und zu erweitern sowie Strukturen und tradierte Rituale zu hinterfragen. Weiterhin ist eine gelingende und transparente Zusammenarbeit interdisziplinärer Systeme im präventiven und intervenierenden Kinderschutz wichtig, um den Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt erhöhen bzw. bereits betroffenen Kindern angemessen helfen zu können. Hierzu bedarf es gegenseitiger Kenntnis über die Vielfalt von Haltungen und Handlungsweisen im Kinderschutz sowie Wissen um die Komplexität und Funktion anderer Strukturen. Transparente und geregelte Kommunikationswege beugen zudem Rollenkonfusionen vor und können dazu beitragen, dass Personen, die im professionellen Kontext Bestandteil kindlicher Lebenswelten sind, aufeinander aufbauen und gut ineinandergreifen.
Viele Aspekte, die in der Prävention von sexualisierter Gewalt bedeutend sind, sind bereits im Alltag von pädagogischen Fach- und Leitungskräften angekommen, ohne dass sie immer als solche wahrgenommen und deklariert werden. Es ist hilfreich, sich dieser bewusst zu werden und sie als Ressource zu nutzen, um daraus weitere präventive Elemente zu entwickeln. Institutionsbezogene Strukturen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen zu schaffen, darf zudem nicht im Ermessen und Engagement Einzelner liegen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die alle Erwachsenen wahrnehmen sollten.
¹Der Begriff der „Kinderpornografie“ geht mit einer Verharmlosung der Gewalttaten einher. Unter Pornografie sind in der Regel einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen volljährigen Personen zu verstehen. Der Terminus suggeriert somit, es handele sich „lediglich“ um Pornografie, deren Darstellungsinhalte Kinder seien (Deutschlandfunk, 16.06.2020). Es gibt jedoch keine einvernehmlichen sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Die weitläufig genutzte Begrifflichkeit „Kinderpornografie“ klammert somit den Gewaltaspekt aus. Genutzt werden könnten alternative Beschreibungen, wie „bildbasierte sexualisierte Gewalt an Kindern“ oder „Missbrauchsabbildungen“.
Die PsG.nrw ist die erste Fachstelle eines Bundeslandes zur Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Vorrangig richtet sich ihr Angebot an Fachkräfte der freien Kinder- und Jugendhilfe und Akteur*innen in der Prävention von sexualisierter Gewalt. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen Wissensvermittlung, fachliche Vernetzung, die flächendeckende Qualifizierung von Fachkräften und die Verankerung von institutionellen Schutzkonzepten. Die PsG.nrw berät zu Schutz und Vorbeugung, vernetzt Akteur*innen und Angebote und leistet einen aktiven Beitrag zur Qualitätsentwicklung. Außerdem vermittelt sie an Fachberatungsstellen und regionale Angebote. So schafft sie Handlungssicherheit und Orientierung. Die Fachstelle sitzt in Köln und wird gefördert vom MKJFGFI des Landes NRW. Trägerin ist die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) NRW. Auf regionaler Ebene wird die PsG.nrw von fünf Regionalstellen in den einzelnen Regierungsbezirken unterstützt.
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